Ein Neubaugebiet mitten im Grünen? Von wegen. Für die Studierenden in Detmold beginnt die Zukunft mit der Vergangenheit, um den Anforderungen des Klimawandels zu begegnen und gleichzeitig das soziale Leben der Bewohner zu stärken. Wo einst bis 2016 auf dem 15,5 Hektar großen Magnum-Areal in Osnabrück ein Unternehmen Stahl produzierte, soll künftig ein Vorzeigeobjekt für Arbeiten und Leben entstehen. Der Preisträger des städtebaulichen Wettbewerbes für das ehemalige Industriegelände ist bereits gekürt – Studierende des Masterstudiengangs Integrated Architectural Design des Fachbereichs Detmolder Schule für Gestaltung an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe entwickelten dazu ihre eigenen Ideen. „Der Sinn dahinter ist, dass Studierende an reale Themen herangeführt werden“, sagt Professor Oliver Hall, der das Projekt mit begleitet hat. Grenzen seien dabei nicht gesetzt. „Selbst wenn die Vorschläge den Investoren zu teuer sein könnten“, meint der Architekt und Stadtplaner.
Marie Anstötz kommt es darauf an, „Ideen mit dem Ziel anzustoßen, dass sie etwas bewirken können“. Die Masterstudentin befasste sich zum Beispiel bei der riesigen Industriebrache mit dem Wohnkonzept, bei dem sie zum Klimaschutz beitragen und das soziale Miteinander stärken will. In ihrem Entwurf stellt sie gleich mit verschiedenen Vorschlägen für Pflanzen die Fassadenbegrünung für die Gebäude vor, um zu besseren Temperaturverhältnissen und höherer Luftqualität beizutragen.
Und Anstötz geht einen Schritt weiter, spricht „vom nachbarschaftlichen Quartier im ehemaligen Arbeiterquartier“. Sie sieht einen sogenannten Laubengang vor, um durch die Grünfassaden der Gebäudestruktur den Kontakt zwischen den Nachbarn herzustellen und ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Neben dem Grün sei Wasser elementar, um in einer Stadt zur Kühlung beizutragen, umschreibt die Studentin das Prinzip der „Schwammstadt“. Ihr Rezept zur Sicherheit vor Starkregenereignissen und extremer Trockenheit: Statt Niederschläge über die Kanalisation abzuleiten, bleiben sie über einen Wasserkreislauf etwa mit Regenrückhaltebecken – am besten als Naturraum gestaltet – oder Zisternen für Hitzewellen im Sommer im Quartier. „Aktiv etwas gegen den Klimawandel zu tun, nicht 08/15-Gebäude zu planen“, stellt Anstötz als Antrieb für ihren künftigen Beruf heraus.
Aber wie lässt sich die riesige Halle des früheren Stahlproduzenten umnutzen? „Gigantisch“, sagt Jule Hollensett über das rund 200 Meter lange und 30 Meter hohe Produktionsgebäude. „Die Dimensionen sind kaum vorstellbar.“ Abriss? Naheliegend. Aber das kommt für die Studentin nicht infrage, die das „Herzstück“ des früheren Unternehmens künftig anders nutzen will. Möglichst viel des Bestandes auf dem Areal solle erhalten bleiben – und wo ein Rückbau unausweichlich ist, die recycelten Baumaterialien vor Ort genutzt werden. „Der Eindruck des alten Stahlwerkes soll nicht verloren gehen“, sagt sie. Lediglich die Fassaden, schlägt sie vor, sollten durch Glaselemente ersetzt werden. Nicht nur optisch entstünde der Eindruck eines gigantischen Gewächshauses.
Nachdem sich Hollensett zuvor mit Kleingärten im Raum Osnabrück befasst hat, sieht sie dort den Anbau von Lebensmitteln – und sie könnten gleich nebenan in einer Markthalle verarbeitet und vertrieben werden. Entsprechende Unternehmen könnten sich ansiedeln, unnötige Transportwege ließen sich einschränken. Schulen ließen sich einbinden, Ältere könnten ihr gärtnerisches Wissen an Jüngere weitergeben. Auch für Hollensett spielen Regenwassermanagement bis hin zu Wasserfontänen als Kühlung in heißen Sommern oder Retentionsgründächer wichtige Rollen. Sie begründet ihre Herangehensweise mit dem Wissen um den Klimawandel, dass es „fast zu spät ist“. Hollensett: „Aber hier auf Quartiersebene kann ich noch etwas bewirken.“
Neben den beiden Entwürfen der jungen Frauen zeigten weitere Studierende vergleichbare Wege für die Industriebrache auf. Das Projekt zeige das Modellhafte, sagt Professor Hall – „dass sie die Problematik erkennen und den Beitrag der Architekten sehen, gegenzusteuern“. Und er sagt auch: „Das Architektenwesen beginnt sich zu transformieren.“ Dazu beitragen will das Institut für Designstrategien (IDS), das an der Technischen Hochschule angesiedelt ist. Es begleitet den Wandel in der Architektur und den Planungsdisziplinen „zu einer verantwortungsbewussten und nachhaltigen Gestaltung des menschlichen Lebensraums“, heißt es in der eigenen Beschreibung. „Hierfür erforscht es die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Raum, entwickelt Strategien auf dem Weg zur klimaresilienten gebauten Umwelt und nutzt die Möglichkeiten der Digitalisierung für innovative Ansätze.“
Bauwerke entwerfen, die Städte der Zukunft konstruieren, die Klimawende mitgestalten – bereits im Bachelor-Studium richtet sich der Blick auf die Praxis. Die Studentinnen Clara Weber und Lina Biermann befassten sich dabei mit einem früheren 500-Einwohner-Dorf, das eigentlich dem Tagebau zum Opfer fallen sollte. Die ursprüngliche Bevölkerung war bereits ab 2015 umgesiedelt worden – dann kam mit dem Kohleausstieg die Rettung. „Sehr bedrückend“, beschreiben die Studentinnen den derzeitigen Zustand des Dorfes. Doch: Unter dem Namen Bürgewald soll es zwischen Köln und Aachen den Neuanfang geben.
Selbst wenn große Planungsbüros dafür die Linie vorgeben, entwickelten die Studentinnen eigene Vorstellungen. Naturnah, autofrei, verschiedene Wohnformen – und das nahe des bald zweitgrößten Sees Deutschlands, der im Tagebau entstehen soll. Über die rund 120 bestehenden Gebäude hinaus sind 120 Neubauten geplant. Parzellen mit Gemeinschaftsflächen – „der Aspekt der Gemeinschaft, der Begegnung und des Austausches ist uns wichtig“, sagen die Studentinnen.
Dort, wo wegen des drohenden Kohleabbaus in den vergangenen Jahren die Infrastruktur verloren ging, richten sie den Blick nicht nur auf einen Reiterhof und ein Kinderparadies als Freizeiteinrichtungen, sondern auf den wirtschaftlichen Neuanfang: Einzelhandel und Gastronomie könnten Arbeitsplätzen schaffen, vielleicht Einnahmen durch Ferienwohnungen erzielt werden. Und die Ruine der im Vorjahr abgebrannten Kirche? Warum nicht ein Tropen- oder Schmetterlingshaus? „Als Teil des alten Dorfkerns wollen wir die Kirche bewusst erhalten“, meint Weber.
Für den Professor gilt es als wichtig, dass die Studierenden den Naturgedanken mit dem sorgsamen Umgang mit dem Lebensraum sehen und das Gemeinschaftsleben möglichst vieler Zielgruppen ansprechen würden. Die Erfahrung zeige, so meint Hall: „Mit studentischen Überlegungen lässt sich etwas bewegen.“
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